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Schnittmuster Stofffremd verwenden?

Es gibt Fragen, die in den einschlägigen Foren und Gruppen wieder und wieder und wieder gestellt werden. Allerdings ist dort immer viel zu wenig Platz im Kommentarfeld und spontan am Handy fällt die Antwort viel zu kurz und unvollständig aus. Daher möchte ich mich mal ausführlich damit befassen und wäre sehr gespannt, ob das auf Interesse trifft.

Frage Nr.1 : ” Kann ich einen Schnitt, der für Webware/ Jersey gedacht ist, auch für Jersey/Webware verwenden?”

Kurze Antwort:

Wenn du die Frage so stellst, lass das mal lieber bleiben!

Lange Antwort:

Kann man machen ABER:

1. Unterschiede in der Konstruktion

Schnittmusterkonstruktion ist ein ganz eigenes Handwerk. Eines für das manche jahrelang studieren oder Berufserfahrung sammlen. Als Hobbyschneiderin kann man sich mit Hilfe von Büchern gute Grundlagenkenntnisse aneignen aber für die allermeisten von uns wird das irgendwo Grenzen finden.

Im Grunde ist Schnittmusterkonstruktion reine Geometrie, die mit zahlreichen Variablen arbeitet und für die es für jede Art Kleidungstück wiederverwendbare Basisgleichungen gibt. Im Standardwerk von Guido Hofenbitzer findet man zum Beispiel alles zur Konstruktion von Damenoberbekleidung. Möchte man einen Rock nähen, beginnt man mit der Rocklänge, markiert die Höhe der Hüfte und zieht eine Linie für die Taille. Dann ergänzt man in Winkel x die Rockweite an beiden Punkten.

Eine wichtige Variable bei der Konstruktion ist die Bequemlichkeitszulage.  Abhängig vom gewünschten Design und vor allem der Stoffart (Webware, Webware mit Elasthan, Maschenware alias Jersey) kann diese Variable einen beliebigen negativen oder positive Wert bekommen. Beispielsweise kann bei einem Hüftumfang von 100cm ein Rockumfang von 95 cm oder auch von 110cm erstellt werden. Diese Variable variiert dabei noch einmal von Stelle zu Stelle im Schnittmuster. So kann die Bequemlichkeitszulage zum Beispiel an der Taille geringer sein als an der Hüfte, da die Hüfte später mehr Bewegungsfreiheit braucht. Am Schnittmuster erkennt man als Kundin später aber nicht wieviel die Designerin an welcher Stelle eingeplant hat. Ihr wisst also nicht wieviel ihr an welcher Stelle hinzufügen oder abziehen müsst, um eine gute Passform im “falschen” Stoff zu bekommen.

Macht man einen Fehler kann man im Rock nicht laufen oder in der Bluse die Arme nicht heben oder aber umgekehrt, man trägt einen formlosen Sack.

2. Unterschiede in der Verarbeitung

Nehmen wir als Beispiel Blusenshirts. Diese sehen oft sehr ähnlich aus, sind aber entweder für Webware oder für Jersey geplant. Bei Webware kann ein Beleg für den Ausschnitt als Schnittteil vorhanden sein oder eine andere Verarbeitungsart beschrieben werden, die für Webware funktioniert. Bei Jersey wird vielleicht eine Bündchen vorgesehen sein. Dann müsste man hier die fehlenden Schnittteile selber erstellen. Das kann man machen, wenn man es kann. Selbst dann keine Garantie für Erfolg.

Webwareblusen haben vielleicht 2,5 cm Nahtzugabe damit eine französische Naht gesetzt werden kann. Während Jerseyshirts nur 0,7cm Nahtzugabe haben, da das für Overlocknähte der Standard ist. Ist die Nahtzugabe im Schnitt bereits enthalten und tauscht man untereinander muss man sehr präzise arbeiten und die Nahtzugabe an den richtigen Stellen anpassen damit es aufgeht. Ein weiteres Risiko für Fehlerquellen.

 

3. Unterschiede in der Formgebung

Grundsätzlich ist Stoff ein zweidimensionales Material. Unser Körper ist allerdings dreidimensional. Jersey ist die Bitch unter den Stoffen, die schmiegt sich an jeden Körper an. Da braucht es wenig formgebende Nähte. Webware hingegen ist anspruchsvoller. Soll die Brust nicht in den Weiten des Textils verschwinden, sind Brustabnäher nötig. Soll die Taille sichtbar sein braucht es Tailenabnäher. Soll der Ärmel schön in die Armkugel eingesetzt werden, muss er eingehalten werden. Soll eine Hose rasant in die rückwärtige Kurve gehen, ist vielleicht sogar ein Sattel vorgesehen.

Man kann in Jersey natürlich auch alle diese Verarbeitungsmethoden nutzen, ist aber irgendwie Quatsch. Umgekehrt solche Dinge zu ergänzen ist nahezu wahnsinnig. Klar ein bischen Wahnsinn treibt auch mich bei manchen meiner Experimente an, ich sitze also in einem fragilen Glashaus, aber empfehlen kann ich das dennoch nicht.

4. Unterschiede im Design

Verschlüsse!

Bei Webware meist enthalten. Ganz ehrlich: Knopflöcher in Jersey nähen ist einfach nur nervig. Muss man sich nicht antun.

Bei Jerseykleidung ist wiederum fast nie ein Verschluss vorgesehen. Aber aus Webware geht das Shirt dann nicht mal über den Kopf. Oder man bekommt die Hose nur bis zu den Knien gezogen. Also muss einer ergänzt werden. Der braucht wieder einen anderen Zuschnitt.

5. Unterschiede im Stoffverhalten

Egal wie oft Viskosejersey von manch Eigenproduzenten als “weich fliessend” beschrieben wird, im Vergleich zu Viskosewebware oder gar Chiffon ist es ein schwerer Strickstoff. So hat Viskose- oder Baumwolljersey meist wenigstens ein Gewicht von 200g/m², während Viskosewebware schon mit 85g/m² beginnt. Damit sind bei Webware üppigere Rüschen und Volants möglich, die aus Jersey vielleicht schon sehr auftragen würden und nicht mehr schön fallen.

Vor allem aber gibt Jersey nicht nur im positiven Sinne nach und formt sich dem Körper an sondern auch im negativen Sinne und hängt sich übel aus, wenn zuviel Material dranhängt. Beispiel Maxikleider. Diese sind zwar auch aus Jersey im Trend aber sind dann im Rockteil eher schmal geschnitten. Denn wenn da ein Quadratmeter Stoff am Oberteil hängt, zieht das einfach ganz ordentlich nach unten. Jeder cm mehr an Saumumfang kann einer zuviel sein, bevor es seltsam aussieht. Aus Webware kann selbst ein bodenlanger Rock als Vollkreis genäht werden, ein zart gefüttertes Oberteil hält dem Stand, nichts hängt und alles flattert fröhlich im Wind.

6. Machs dir nicht unnötig schwer

Alles was ich bis hierher geschrieben habe, kannst du nun auch als Punkte zum Berücksichtigen und Einplanen verwenden. Natürlich kann das ein spannendes Experiment sein. Da kann man auch viel draus lernen und Spass dran haben. Natürlich kann es auch klappen und hübsch werden. Aber wenn du noch Anfängerin bist, mach es dir doch nicht unnötig schwer! Es gibt so unfassbar viele wundervolle Desigerinnen und so endlos viele tolle Schnittuster da draussen, du wirst garantiert eins finden, was deinen Vorstellungen entspricht. Wenn nicht, ist es eher eine schöne Herausforderung es mit Patternhacking zu versuchen. Das ist für den Anfang viel leichter und daran lernt man unheimlich viel über Schnittmusterkonstruktion und kann sich weiterentwickeln ohne zu hohes Teil-für-die-Tonne-Risiko.

7. Gönn den Designerinnen ihr Einkommen

Last but not least: ich finde Frauen sollten ein bisschen zusammenhalten. Viele talentierte Designerinnen leben von ihren E Books. Der Markt ist groß, die Konkurrenz hart. Wir Kundinnen haben diese üppige Auswahl an immer neuen Schnitten nur solange diese Frauen davon leben können. Daher gebe ich keine pdf Schnitte weiter, kaufe keine bei 2-€ Aktionen und vor allem kaufe ich einen Schnitt wenn er mir gefällt. Nähen ist ein teures Hobby, das lässt sich nicht leugnen aber sparen wir doch nicht an der falschen Stelle.

8. P.s. Ausnahmen bestätigen die Regel

Es gibt natürlich Schnitte, die so formlos sind, dass es tatächlich schnurz ist aus welchem Material sie genäht werden. Oversize Fledermausshirt zum Beispiel. Da gibt es dann einfach keine formgebenden Nähte, Verschlüsse oder sonstwas. Das Material bestimmt dann lediglich, ob es eine flatterhafte Sommerbluse oder ein kuscheliger Lagenlook Pulli wird.

Fazit

Nähen ist ein ganz wundervolles Hobby. Es ist aber auch ein anspruchsvolles Handwerk. Für Anfängerinnen gibt es jede Menge zu lernen und reichlich Hürden zu nehmen, die euch niemand abnehmen kann. Ich bin definitiv kein Fan von Abkürzungen oder Pfusch. Schlechte Passform und schlechte Verarbeitung lässt sich nicht schönreden und “Ich bin noch Anfänger” zählt bei mir nicht wenn ich gefragt werde, ob etwas gut aussieht. Aber manche Fallen und Fails kann man sich durchaus sparen auf dem Weg zum schönen Hobbyschneidern.

Letztlich habt alle Spass mit dem was ihr tut!

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